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16. August 2014


„Schwer und drückend werden die Lasten des Krieges sein“
Fast ein halbes Jahrhundert des Tötens und Zerstörens: Der Weg vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg (1)


Der Stab des Infanterieregiments 83 an der Ostfront. Auch dieser Verband wird 1918/19 aufgelöst. Arolsen ist damit keine Garnisonsstadt mehr. (Fotos: Archiv WLZ)

Thronverzicht? Wer verlangt den? Diese kleine Gruppe Revoluzzer, die Hilfe aus dem „ausländischen“ Kassel benö-tigt, um überhaupt in Arolsen auftreten zu können? Für wen stehen die? Doch Fürst Friedrich gibt sich diplomatisch, als eine Delegation des Arolser Arbeiter- und Soldatenrates am 11. November 1918 bei ihm vorspricht und fordert, dass dem Waldecker Volk die Gestaltung der Staatsform überlassen werden solle. Dem stimmt er zu. Sein Kabinett fügt dem in einer Erklärung sogar hinzu: „Fordert das Volk und sein Wohl einen Verzicht auf den Thron, so ist der Fürst hierzu bereit.“

Doch Friedrich kennt sein Volk, er weiß: Eine demokratische Abstimmung über die Abschaffung der Monarchie würde in Waldeck kläglich scheitern. Dennoch steht die seit dem Mittelalter vorherrschende Staatsform in Deutschland vor dem Aus. In Berlin ist der Sturz des deutschen Kaisers und preußischen Königs bereits seit dem 9. November vollzogen, Wilhelm II. hat sich in die neutralen Niederlande geflüchtet. Von Oldenburg über Stuttgart und Dresden bis München danken die Regenten ab. „Macht doch euern Dreck alleene“, soll der sächsische König Friedrich August III. ausgerufen haben.


Fürst Friedrich wird abgesetzt.

Der Arbeiter- und Soldatenrat erklärt
Fürst Friedrich von Waldeck und Pyrmont
kurzerhand für "abgesetzt".

Deutsche Niederlage

Es ist viel geschehen seit den Tagen im August 1914, als das III. Bataillon des „83er“ Infanterieregiments aus Arolsen abmarschiert ist, um im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Vier Jahre später ist die deutsche Niederlage abzusehen. Als General in der 22. Division kennt Fürst Friedrich die bedrohlichen Entwicklungen.

In Europa sind frische Truppen aus der Industriemacht USA eingetroffen, die insgesamt 4,7 Millionen Mann mobilisiert hat. Die neuen „Tanks“ der Briten, schwere Panzerwagen, überrollen Schützengräben und Stacheldraht-Verhaue. Alliierte Flugzeuge bedrohen deutsche Grenzstädte.

Schon am 28. Oktober 1918 hat Friedrich in einem Brief an den Landtag in Arolsen gewarnt: „Die letzten Wochen haben die Gewißheit gebracht, daß unserem deutschen Vaterlande in dem ihm aufgezwungenen Kampfe ein Frieden, wie ihn die glorreichen Waffentaten unseres herrlichen Heeres auf zahllosen Wallstätten noch vor nicht ferner Zeit erhoffen ließen, nicht beschieden sein wird. [...] Und schwer und drückend werden die Lasten sein, die der Krieg auf lange Jahrzehnte Deutschland und seiner Volkswirtschaft auferlegt.

Der Krieg ist verloren. Soldaten rebellieren, die im Weiterkämpfen keinen Sinn mehr sehen. An der „Heimatfront“ haben ausgemergelte Städter Hunger und Not satt. Ein Matrosenaufstand in Kiel löst eine Kettenreaktion aus, überall kommt es zu Protesten, Streiks und Übergriffen. In Berlin überschlagen sich am 9. November die Ereignisse, die Regierung tritt zurück, der Kommunist Karl Liebknecht und der Kasseler Sozialdemokrat Philipp Scheidemann rufen fast zeitgleich die Republik aus.

Demokratie errichten

Etablierte Politiker und Beamte sehen die überall entstehenden Arbeiter- und Soldatenräte als Chance, um die zunehmend chaotischen revolutionären Umtriebe in Grenzen zu halten. Sozialdemokraten arbeiten dort mit, weil sie ein sozialistisches Rätesystem verhindern wollen: Sie wollen eine parlamentarische Demokratie, die auch für andere Parteien offen ist. Durch die Einbindung der Konservativen hoffen sie, einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Die Hoffnung trügt, das politische Klima bleibt bis 1933 vergiftet.

Die Abschaffung der Monarchie hat die SPD nicht gefordert. Aber durch die Abdankungswelle ist sie nicht mehr zu retten. Da Friedrich als fast einziger Regent im Reich nicht mitspielt, sieht sich der Arbeiterrat veranlasst einzuschreiten, so verkündet er am 13. November: „Fürst von Waldeck und Pyrmont lehnt seinen freiwilligen Verzicht auf den Thron ab. Im Auftrag des Arbeiter- und Soldatenrates Cassel wird Fürst Friedrich von Waldeck und Pyrmont, durch den Arbeiter- und Soldatenrat Arolsen vom heutigen Tag an als abgesetzt erklärt.“

Friedrich bestätigt per Unterschrift, dass er davon „Kenntnis genommen“ habe. Er zieht sich zurück. Und die Waldecker haben die Volkssouveränität faktisch per Kasseler Ratsbeschluss verordnet bekommen.

Generäle, rechte Politiker und hohe Beamte bejammern die Niederlage. Schnell kommt die Legende vom „Dolchstoß“ auf, vom Verrat der Linken, die mit ihrem Aufstand dem siegreichen Heer in den Rücken gefallen seien. Eine Lüge. General Ludendorff hat die Nerven verloren und die Regierung aufgefordert, sofort Waffenstillstandsverhandlungen aufzunehmen.

Neue, demokratische Politiker müssen den Kopf hinhalten für das Versagen der alten kaiserlichen Eliten. Ein Versagen, das weiter als 1914 zurückreicht.

Mangel vorhersehbar

Die deutschen Eliten haben diplomatisch versagt. Der erste Reichskanzler Otto von Bismarck hat stets auf das Bündnis mit dem russischen Zarenreich gesetzt, um eine Umklammerung Deutschlands zu verhindern. Er strebte den Ausgleich mit den Briten an. Kaiser Wilhelm ist unfähig, dieses diplomatische Netzwerk aufrecht zu halten, er isoliert Deutschland und schafft so die Konstellation, die in den Krieg führt.

Die mangelhafte Kriegsvorbereitung zeigt sich überall. Die wirtschaftlich starke Exportnation Deutschland kann sich schon 1914 nicht selbst versorgen. Nicht nur die Industrie ist auf importierte Rohstoffe angewiesen, das Kaiserreich muss auch tonnenweise Lebensmittel einführen. Durch die britische Blockade der Seewege herrscht bald überall Mangel. In Waldeck haben viele Familien Landwirtschaft oder wenigstens einen Garten. Das lindert die Not. Doch in den Großstädten wird die Versorgungslage immer dramatischer. Im „Steckrübenwinter“ 1916/17 gibt es kaum noch etwas zu essen, mindestens 700.000 Hungertote soll es gegeben haben. Ein prägendes Erlebnis für Generationen.

Und Generäle, Regenten und Politiker in ganz Europa haben keinen blassen Schimmer, welche gigantischen Militärmaschinerien sie 1914 in Gang setzen: Die Volksarmeen des 19. Jahrhunderts töten mit den Waffen des 20. Jahrhunderts. Die Massenheere sind so einem Massensterben ausgesetzt.

Nie zuvor hat es so viele Tote gegeben: Fast 17 Millionen sterben. 15 Prozent der rund 13 Millionen deutschen Soldaten fallen. In fast jedem Dorf Waldecks werden Gedenksteine aufgestellt. Nie zuvor hat es so viele Verstümmelte gegeben: Etwa 20 Millionen Männer werden verwundet. Und dann die vielen psychisch Zerstörten wie die kriegstraumatisierten „Zitterer“.


Der Kunstmaler Willi Tillmans hat dieses Bild eines Wildunger Kameraden in einem Schützengraben des Ersten Weltkrieges geschaffen.
Aus dem Bestand des Wildunger Quellenmuseums.

„Verlorene Generation“

Der Schriftsteller Erich Maria Remarque prägt international das Wort von der „verlorenen Generation“, der „Lost Generation“ der Kriegsheimkehrer, für die ein „normales“ bürgerliches Leben nach den Grauen in den Schützengräben nicht mehr vorstellbar ist. Auch in Kunst und Kultur kommt es zum Bruch mit althergebrachten Formen.

Es ist ein Krieg der technischen Neuerungen, die neue Strategien nach sich ziehen. Kanonen mit nie dagewesener Zerstörungskraft zerfetzen Infanteristen in Kilometern Entfernung, Maschinengewehre mähen Kavallerie-Regimenter nieder und machen sie obsolet. Der von August Bier aus Helsen entwickelte Stahlhelm ersetzt die preußische Pickelhaube, Feldtelefone sichern die Befehlsübermittlung, Lastwagen sind beim Truppen- und Materialtransport flexibler als die Bahn und effektiver als Pferdefuhrwerke. Erstmals wabern Giftgasschwaden über Schlachtfelder.

Erstmals ist das Schlachtfeld dreidimensional – in der Luft greifen immer ausgereiftere Flugzeuge ein und eröffnen den Feldherren neue strategische Perspektiven. Unter Wasser werden neue U-Boote selbst für dick gepanzerte Schlachtschiffe eine Gefahr. Und schließlich bringen die ersten Panzer 1917/18 die starren Fronten im Westen wieder in Bewegung. Die Kriegführung wandelt sich radikal. Aus dem auch durch die Finanzkraft von Staaten begrenzten Bewegungskrieg alter Schule wird im Westen binnen Wochen ein erbitterter Stellungskrieg, beide Seiten liefern sich gewaltige „Materialschlachten“ um wenige Meter Geländegewinn – ein Krieg auf Verschleiß. Alles wird mobilisiert, siegen kann nur, wer länger durchhält und mehr Munition, Verpflegung und mehr Soldaten zum Verheizen an die Front bringen kann.

Erster „totaler Krieg“

Nie zuvor sind Volkswirtschaften in diesem Ausmaß auf die Bedürfnisse der Rüstung ausgerichtet worden wie 1914 bis 1918. Immer neue Kriegsanleihen und die Inflation zehren den bürgerlichen Wohlstand auf, Frauen ersetzen die Männer auf dem Feld und in den Fabriken, es gibt immer neue Sammelaktionen für Lebensmittel, Metalle und Kleidung, Schmuck, Kulturgüter und Kirchenglocken werden eingeschmolzen. Der „totale Krieg“ der Nationalsozialisten ist insoweit vielfach schon vorweggenommen.

Und dennoch reicht es immer weniger. Gerade in den Großstädten wachsen Hunger und Not. Auch an der Front kommt es zu Meutereien. Am Ende ist Deutschland eine Republik. In diesen brutalen Völkerschlachten wird bereits der Keim gelegt für den Zweiten Weltkrieg mit seinen Gräueltaten und seiner nochmals gesteigerten Totalität des Tötens und Vernichtens. Für einige Historiker ist der zweite Krieg eine Fortsetzung des ersten, sie sehen die Zeit von 1914 bis 1945 inzwischen als eine Einheit.

Nachkriegsordnung sorgt für Spannungen statt für Frieden
Fast ein halbes Jahrhundert des Tötens und Zerstörens: Der Weg vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg (2)


Im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles wird am 28. Juni 1919 der Friedensvertrag mit Deutschland unterzeichnet. Doch Frieden bringt er nicht.

In einem Salonwagen der französischen Bahn im Wald von Compiègne unterzeichnen deutsche Politiker und alliierte Militärs am 11. November 1918 den Waffenstillstand, der das Abschlachten an der Westfront beendet. Der Erste Weltkrieg ist beendet. Doch schon 25 Jahre später donnern in Europa erneut die Kanonen: Der Weltkriegs-Gefreite Adolf Hitler entfesselt als „Führer“ des „Großdeutschen Reiches“ am 1. September 1939 den nächsten zerstörerischen Weltenbrand.

Es gibt zwar keine Zwangsläufgkeit, die von Verdun nach Stalingrad geführt hätte, keinen Automatismus, der einen Waffengang unausweichlich gemacht hätte. Aber unverkennbar liegen Wurzeln des Zweiten im Ersten Weltkrieg begründet. Manche Historiker betrachten beide Zeitabschnitte zusammen, deshalb sprechen sie von einem zweiten „dreißigjährigen Krieg“.

Welche Entwicklungen führen sie ins Feld? Ein Überblick:

Vertrag von Versailles

Im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles bei Paris wird am 28. Juni 1919 der Friede zu Grabe getragen. Wo deutsche Fürsten 1871 das vereinte Kaiserreich ausgerufen haben, unterzeichnen Politiker der neuen deutschen Republik unter Protest ein Regelwerk, das zwar den Namen „Friedensvertrag“ trägt, das aber für mehr als zwei Jahrzehnte nur Zwietracht in Europa sät.

„A war to end all wars“ – „Ein Krieg, um alle weiteren Kriege zu beenden“: So idealistisch sieht der US-Präsident Woodrow Wilson den Ersten Weltkrieg. Der ehemalige Professor für Geschichte, Recht und Volkswirtschaft hat der Welt ein „14-Punkte-Programm“ vorgelegt. Er will nach dem Grundsatz des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ eine „gerechte“ Nachkriegsordnung schaffen, ein neu eingerichteter Völkerbund soll künftig die friedliche Beilegung internationaler Konflikte garantieren.

Doch in den praktischen Verhandlungen in Versailles versagt er. Es wird kein Verständigungsfriede, der die Interessen aller zum Ausgleich bringt. Die Deutschen bekommen nicht einmal ein Mitspracherecht bei der Formulierung der Abmachungen. Sie fühlen sich vom arg naiv handelnden Wilson verraten.

Die Franzosen setzen über weite Strecken einen „Siegfrieden“ durch. Nach zwei Kriegen hegen sie den Wunsch nach Rache und der dauerhaften Schwächung des „militaristischen“ Deutschlands: „Sicherheit zu schaffen war die erste Pflicht“, schreibt ein Regierungsvertreter. Auch die Briten machen viele Zugeständnisse, die nur neuen Völkerhass schüren.

So legt Artikel 231 des Versailler Vertrages fest, dass Deutschland und seine Verbündeten „Urheber aller Verluste und aller Schäden“ seien. Die Deutschen müssen hohe Entschädigungen zahlen – eine Reparationskommission legt später fest, dass die Weimarer Republik 226 Milliarden Goldmark aufzubringen habe – eine gewaltige Bürde, die zum Scheitern der Demokratie und zum Aufstieg Hitlers beiträgt.

Die Frage der alleinigen deutschen Kriegsschuld sorgt quer durch alle politischen Lager für Empörung. Aber die Demokraten der jungen Republik müssen diesen „Schandvertrag“ unterzeichnen, um einen neuen Krieg zu vermeiden – eine Handlung, die schwer auf diesem ersten freiheitlichen Staat lastet und die innenpolitische Atmosphäre dauerhaft vergiftet. Dass es Hitler nach 1933 schafft, viele der als ungerecht empfundenen Auflagen abzuschütteln, trägt ihm eine breite Zustimmung ein, die seine Diktatur festigt. Und ein neuer Krieg ist für Hitler ausgemacht – die Strategie der Franzosen geht also nicht auf.

Neues Spiel der Kräfte

Weiterer Punkt: Der Erste Weltkrieg hat das im 18. und 19. Jahrhundert gewachsene System der europäischen Großmächte endgültig zerstört – und damit das von den Briten beschworene „Gleichgewicht der Kräfte“, die „Balance of Power“:

• Österreich-Ungarn löst sich auf, der Kaiser muss ins Exil, das Reich mit seinen vielen Völkern zerbröselt in neue Einzelstaaten, die sich um ihre Grenzen streiten. Übrig bleiben nur die österreichischen Kernlande, denen die Siegermächte den Anschluss an Deutschland untersagen. Südtirol wird Italien zugeschlagen. Der nächste Krisenherd.

• In Russland wird schon 1917 der Zar gestürzt, im zerfallenden Reich entbrennt ein Bürgerkrieg, den die vom deutschen Kaiserreich unterstützten Bolschewisten Lenins erst nach Jahren gewinnen. Finnland, das Baltikum und Ostpolen gehen verloren, aber das Land lässt sich mit Gewalt stabilisieren. Das Volk leidet, als der angeblich sozialistische Menschenversuch beginnt. Erst unter dem Diktator Josef Stalin wird die Sowjetunion zum Ende des Zweiten Weltkriegs zur globalen Supermacht neben den USA.

• In Deutschland ist der Kaiser abgetreten, das Land ist international isoliert, die neue demokratische Ordnung fragil, das Land geschwächt durch Kriegslasten, erhebliche Gebietsabtretungen, den Verlust der Kolonien und horrende Reparationsforderungen. Aber das Land blieb eine führende Industriemacht und Handelsnation.

• Das Osmanische Reich, verbündet mit Deutschland und Österreich, zerfällt, alle arabischen Gebiete gehen verloren, der letzte Sultan Mehmed VI. wird 1922 abgesetzt. Um die maroden, veralteten Staatsstrukturen zu beseitigen, macht sich General Mustafa Kemal als Präsident daran, eine moderne und strikt weltliche Türkei im anatolischen Reststaat aufzubauen. Er bekommt den Ehrentitel Atatürk: „Vater der Türken“.

Aber auch • Frankreich und Großbritannien als die formellen Sieger sind ausgezehrt und geschwächt – was Folgen für ihre Wirtschaftskraft und ihre Herrschaft in den weltweiten Kolonialreichen hat.

Neue Machtgefüge und Bündnisse müssen sich in Europa erst bilden und austarieren. Neue Leute sitzen in den Regierungszentralen an den Schalthebeln, altbewährte Informationskanäle zu Vertrauten in anderen Hauptstädten sind gekappt. Auch das sorgt für Instabilität.

Und zwei neue Mächte wachsen außerhalb Europas weiter:
• Die USA ziehen sich nach 1918 zwar politisch zurück in ihre „Splendet Isolation“, bleiben aber eine weiter wachsende und international investierende Industriemacht, die ihren mittel- und südamerikanischen „Hinterhof “ sorgsam bewacht und auf den Pazifik ausgreift.

• Japan mausert sich im fernen Osten zur modernen und zunehmend aggressiv auftretenden Großmacht. Das Reich des Tenno stößt in ein Machtvakuum vor, das die auf ihren Krieg konzentrierten europäischen Mächte in ihren fer-nöstlichen Kolonien geschaffen haben. Korea und das zerfallende China geraten in die Fänge Japans, das den Aus-bruch des Zweiten Weltkriegs im Pazifik verursacht.

Ethnische Konflikte

Schon im Ersten Weltkrieg haben sich durch die Kampfhandlungen in Osteuropa ganze Völkerschaften in Bewegung gesetzt, es kommt zu ersten Vertreibungen, zu Pogromen gegen jüdische Gemeinden, zum Völkermord an den Armeniern in der Türkei. Der deutsch-russische Sonderfriede 1917 verschiebt erstmals Grenzen, die sich noch mehrfach ändern.

Dazu trägt vor allem der Zerfall des russischen Zarenreiches und der Habsburger Doppelmonarchie bei. Neue Staaten verändern in Ost- und Mitteleuropa die Landkarte: Jugoslawien, Ungarn, Rumänien, die Tschechoslowakei, Polen, Finnland und die drei baltischen Staaten entstehen aus der „Konkursmasse“ der großen, alten Reiche.

Sie haben oft unsichere Grenzen und weitere Gebietsansprüche, die für Spannungen sorgen. So macht das wiederentstandene Polen im Bürgerkrieg zwischen den Roten Lenins und den zaristischen Weißen in Russland Geländegewinne.

Es rächt sich, dass die 1919/20 in Frankreich geschlossenen Friedensverträge für den Osten machtpolitischem Kalkül folgen statt dem Ausgleich.

Weitere Folge: Viele Staaten erhalten eine heterogene Bevölkerung, es gibt viele ethnische Minderheiten: Deutsche leben nach 1919 plötzlich in den baltischen Staaten, in Dänemark, Belgien, Frankreich, Polen, Ungarn oder in der Tschechoslowakei. Viele Ungarn werden Bürger Jugoslawiens und Rumäniens, Ukrainer werden Polen, Russen bleiben in den neuen Staaten im Baltikum.

Die ethnischen Streitigkeiten werden zum Pulverfass, an dem Nationalisten aller Seiten fleißig zündeln. Den Angriffskrieg gegen Polen begründet Hitler 1939 auch mit angeblichen Übergriffen der Polen auf die deutsche Bevölkerung des Landes.

Krise des Bürgertums

Mit dem Krieg endet 1918 zwar das Zeitalter des Hochimperialismus, aber seine Hauptbestandteile, der Nationalismus und der Sozialdarwinismus, blühen weiter. Das stärkt die Bereitschaft, Ergebnisse des „großen Krieges“ durch neue Waffengänge zu korrigieren.

Die psychologische Befindlichkeit gerade in Deutschland beeinflusst wesentlich, dass der Krieg das Ende des „bürgerlichen Zeitalters“ besiegelt hat. Das durch wertlose Kriegsanleihen, die Kriegskosten und die horrende Inflation wirtschaftlich geschwächte Bürgertum ist von Abstiegsängsten geplagt, es ist verunsichert und durch die Niederlage und den demütigenden „Schandvertrag“ verbittert. Hinzu kommt, dass die gewohnte Ordnung und die klare Hierarchie weggebrochen sind. Der Sturz der Monarchie, die gesellschaftlichen Umschwünge, die neuen Freiheiten, Ungewissheiten, die neue Moral und Kultur – das befremdet viele.

Die Trends machen sich auch in Waldeck bemerkbar. Die Absetzung des hoch verehrten Fürsten Friedrich, die Ab-trennung Pyrmonts und der Verlust der Selbständigkeit treffen viele Waldecker ins Mark.

Der scharfe Parteienstreit in Berlin ist keine Werbung für die junge Demokratie. Kapitalistische Hardliner verhindern notwendige soziale Reformen. Umso schärfer sind die Auswirkungen der Agrarkrise Ende der 1920er Jahre und vor allem der von Spekulanten ausgelösten Weltwirtscha3skrise nach 1929.

Das Bürgertum wendet sich frustriert den „Braunhemden“ zu. Es wird nicht wie in Großbritannien und Frankreich zum Pfeiler der Demokratie, sondern wünscht sich in großen Teilen einen „starken Führer“ – eine Rolle, die Hitler gern übernimmt. Er lässt sich von seiner Propaganda fast als neuen „Messias“ inszenieren, den die „Vorhersehung“ bringt, um das Reich zu neuer Größe zu bringen – mit einem neuen Krieg, mit dem er „Lebensraum im Osten“ für sein „Weltreich“ gewinnen will.

Kampf der Ideologen

Mehrere autoritäre Regime gedeihen im Nährboden der traumatisierten Nachkriegsgesellschaften, ob der Faschismus in Italien, Ungarn und Spanien oder der deutsche Nationalsozialismus, der noch eine Komponente beinhaltet: den Rassismus. Er predigt den Judenhass und die angebliche Überlegenheit der „arischen“ oder „nordischen Rasse“, der Hitler ein ihrer Bedeutung entsprechendes Reich zimmern will. Mit Krieg, versteht sich.

Der große Gegner der Rechten ist die andere starke Bewegung, die in der Krise des ungezügelten Kapitalismus heranwächst: der Kommunismus, der in Moskau sein „Zentrum der Weltrevolution“ einrichtet. Doch in Deutschland profitiert ausgerechnet Hitlers Bewegung vom Versagen des „freien Marktes“ und der Politik, die wegen der Reparationsforderungen einen extremen Sparkurs fährt und so die Krise und die Not des Volkes dramatisch befördert.

Auch das landwirtschaftlich geprägte und weitgehend konservative Waldeck wird so rasch eine Hochburg der Natio-nalsozialisten, sie steigen binnen Monaten zur stärksten politischen Partei auf. Was singen sie auf den Straßen? „Denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt...“ (-sg-)


Folge des Vertrags von Versailles: Deutsche Reparationslieferungen gehen per Zug über die französische Grenze
(Bundesarchiv)

Auf den Trümmern der Weimarer Republik erreichten die Nationalsozialisten ihr "Drittes Reich". In der Garnisonsstadt Arolsen paradiert die SS - bevor sie 1939 in den zweiten Weltkrieg ausrückt.

© "Mein Waldeck" WLZ Sa, 16. August 2014 mit freundlicher Genehmigung von Dr. Karl Schilling
© 2014 Waldecker-Münzen.de